e) Nationale Rückfallklauseln

Soweit Deutschland wegen einer Freistellung kein Besteuerungsrecht hat, kann es vorkommen, dass auch im Ausland faktisch keine Steuern bezahlt werden. Länder verzichten z. T. bewusst auf das ihnen zustehende Besteuerungsrecht.[1] In diesem Fall liegen sog. „weiße Einkünfte“ vor. Zumindest Deutschland hat an dieser Stelle rechtliche oder auch nur tatsächliche Bedenken. Derartige Einkünfte sollen nach Meinung der Finanzverwaltung vermieden werden.[2]

§ 50d Abs. 8 EStG[3] ist eine sog. unilaterale Rückfallklausel („Subject-to-tax“-Klausel). Sie besagt, dass die DBA-Freistellung bei Einkünften eines unbeschränkt Stpfl. aus nichtselbständiger Arbeit nur gewährt wird, soweit der Steuerpflichtige nachweist, dass der Quellenstaat, dem gemäß DBA das Besteuerungsrecht zusteht, auf dieses verzichtet hat oder dass die im Quellenstaat auf die Einkünfte festgesetzten Steuern entrichtet wurden.[4] Ziel des deutschen Gesetzgebers ist die Verhinderung der abkommensrechtlich basierten faktischen Keinmalbesteuerung. Die Norm leidet an dem „Makel“, dass es sich dabei um ein Treaty override handelt. Von einem Treaty override spricht man, wenn der nationale Gesetzgeber eine Bestimmung erlässt, die im klaren Widerspruch zu den vereinbarten DBA-Regelungen steht, also eine abkommensrechtlich herbeigeführte begünstigende Rechtsfolge durch nationale Vorschriften wieder beseitigt oder eingeschränkt wird. Mit der Treaty-override-Norm will der Gesetzgeber tatsächlichen oder mutmaßlichen Missbrauch verhindern.[5] Ursprünglich wohl gedacht für spezielle Berufsgruppen mit „fließendem“ Tätigkeitsort (z. B. Piloten, Lkw-Fahrer), entfaltet § 50d Abs. 8 EStG aber Wirkung für alle Arbeitnehmer.

Einen ähnlichen Treaty override sieht die Norm des § 50d Abs. 9 EStG[6] vor; diese schließt die Freistellung von Einkünften nach DBA aus, wenn der andere Vertragsstaat diese Einkünfte nicht oder niedrig besteuert.[7] Der BFH hat entschieden, dass Einkünfte, die nach einem DBA von der Bemessungsgrundlage auszunehmen sind, die Freistellung der Einkünfte unbeschadet des in § 50 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG (2002 idF des JStG 2007) angeordneten Besteuerungsrückfalls auch dann zu gewähren ist, wenn der andere DBA-Staat das ihm durch das DBA zugewiesene Besteuerungsrecht nur für einen Teil der Einkünfte wahrnimmt.[8]

Zum Verhältnis von § 50d Abs. 8 und Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG hat der BFH Folgendes ausgeführt:[9]

„Sind Einkünfte eines unbeschränkt Stpfl. aus nichtselbständiger Arbeit (…) nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (…) von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen, wird nach § 50d Abs. 8 Satz 1 1. Alternative EStG 2002 (i. d. F. des StÄndG 2003) die Freistellung bei der Veranlagung ungeachtet des Abkommens nur gewährt, soweit der Stpfl. nachweist, dass der Staat, dem nach dem Abkommen das Besteuerungsrecht zusteht, auf dieses Besteuerungsrecht verzichtet hat. Ist der geforderte Nachweis aber erbracht, ist die Freistellung zu gewähren. Für ihre Versagung nach § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG 2002 (i. d. F. des JStG 2007) besteht dann regelmäßig kein Raum; Abs. 8 steht zu Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 vielmehr im Verhältnis der Spezialität.“

Auf dieses Urteil hin wurde § 50d Abs. 9 EStG im Rahmen des Amtshilferichtlinien-Umsetzungsgesetzes[10] dahingehend geändert, dass § 50d Abs. 8 und Abs. 9 EStG (sowie auch § 20 Abs. 2 AStG) nebeneinander anwendbar sind.[11]

Von der Rechtsprechung wurde § 50d Abs. 8 EStG bisher als verfassungsgemäß gewertet, die Rechtsprechung konnte keinen Vorrang des jeweiligen DBA feststellen.[12] Der BFH teilte diese Ansicht nicht und legte  dem BVerfG die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines Treaty override anhand der Norm des § 50d Abs. 8 EStG (Normenkontrollersuchen) vor. [13] Nach Ansicht des BFH läuft § 50d Abs. 8 EStG dem Vorrang des Völkerrechts (Art. 25 GG) zuwider, ohne dass dafür ein tragfähiger Rechtfertigungsgrund vorliege. Kein Rechtsfertigungsgrund sei insbesondere die mögliche Erzielung „weißer Einkünfte“, was die Norm verhindern solle. Zudem lägen Gleichheitsverstöße (Art. 3 GG) vor: Der im Ausland arbeitende Arbeitnehmer wird trotz DBA durch § 50d Abs. 8 EStG so behandelt wie ein im Inland arbeitender Arbeitnehmer und damit im Ergebnis gegenüber einem Steuerpflichtigen mit anderen Einkünften als aus nichtselbständiger Arbeit benachteiligt. Der BFH wendet sich in diesem Vorlagebeschluss ausdrücklich von seiner bisherigen Spruchpraxis ab, wonach „… der unilaterale „Bruch“ des völkervertragsrechtlich Vereinbarten – das sog. Treaty Overriding – zwar aus rechtspolitischer Sicht unerfreulich, dass darin aber kein verfassungsrelevanter Vorgang …“ zu sehen sei. Und: „Der Senat möchte an dieser Spruchpraxis nicht festhalten. Er ist zu der Überzeugung gelangt, dass die bislang vertretene Einschätzung den verfassungsrechtlichen Vorgaben und Anforderungen nicht gerecht wird. (…)“.[14] Das Bundesverfassungsgericht[15] hingegen hält Treaty Overriding für mit dem Grundgesetz vereinbar: „Spätere Gesetzgeber müssen – entsprechend dem durch die Wahl zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes – innerhalb der vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber revidieren können.“[16] Der BFH hat sich daraufhin der Meinung des Bundesverfassungsgerichts angeschlossen und entschieden, dass § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG (2002 n. F.) auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsgemäß sei.[17]

Auf die Ausführungen zu § 50d Abs. 8 EStG in dem Kapitel V. Missbrauchsdiskussion, § 11 Verhinderung der Keinmalbesteuerung, Ziffer II. wird ergänzend hingewiesen.

Neuere deutsche DBA sehen bereits im Methodenartikel vor, dass für die Freistellung der Einkünfte erforderlich ist, dass der andere Vertragsstaat diese Einkünfte auch tatsächlich besteuert.[18] So sieht z. B. das DBA Luxemburg vom 23.04.2012[19] in Art. 22 Abs. 1a) folgende Regelung vor:

„Von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer werden die Einkünfte aus Luxemburg sowie die in Luxemburg gelegenen Vermögenswerte ausgenommen, die nach diesem Abkommen in Luxemburg tatsächlich besteuert werden und nicht unter Buchstabe b fallen.“

Statt des Nachweises der ausländischen Versteuerung gemäß § 50d Abs. 8 EStG im Rahmen des Veranlagungsverfahrens, ist nach dieser Regelung der Nachweis bereits für die Freistellung an sich erforderlich. Ein Rückgriff auf § 50d Abs. 8 EStG ist demnach nicht (mehr) erforderlich. Der Nachweis, dass der andere Vertragsstaat auf sein Besteuerungsrecht verzichtet, genügt nach diesen neueren DBA-Regelungen im Gegensatz zu § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG nicht, um die Freistellung der Einkünfte von der deutschen Besteuerung zu erlangen.

Dies führt auch zu einem Folgeproblem für den Lohnsteuerabzug durch den Arbeitgeber, denn der Nachweis der Besteuerung im Tätigkeitsstaat wird zum Zeitpunkt des (ggf. durchzuführenden) Lohnsteuerabzugsverfahren in der Regel noch nicht vorliegen, sodass die Freistellung zumindest fraglich ist. Der Arbeitgeber muss in dieser Situation unter Berücksichtigung seiner erhöhten Mitwirkungspflicht gemäß § 90 Abs. 2 AO und seiner eventuellen Haftung für rechtswidrig unterlassenen Lohnsteuerabzug genau prüfen, ob der den Lohnsteuerabzug vornehmen sollte oder unterlassen kann.

Bei dieser Frage kommt es insbesondere darauf an, ob das Tatbestandsmerkmal der „Besteuerung im Tätigkeitsstaat“ erfüllt ist. Hierzu enthält das BMF-Schreiben vom 20.06.2013 zur Anwendung von Subject-to-tax-, Remittance-base- und Switch-over-Klauseln nach den Doppelbesteuerungsabkommen[20] in Tz. 2.3 die Aussage, dass eine Besteuerung in dem Vertragsstaat, dem das Besteuerungsrecht nach dem DBA zugewiesen ist, vorliegt, soweit die Einkünfte in die steuerliche Bemessungsgrundlage einbezogen werden. Davon sei auch dann auszugehen, wenn eine Besteuerung infolge von Freibeträgen, eines Verlustausgleichs oder -abzugs wegen anderer negativer Einkünfte, des Abzugs bzw. der Anrechnung von im Ausland gezahlter Steuern (…) unterbleibt oder aufgrund ausländischer Vorschriften zur Einkünfteermittlung temporäre (z. B. das Recht des anderen Vertragsstaats ermöglicht höhere Rückstellungen oder lässt höhere Abschreibungen zu) oder permanente Differenzen im Vergleich zu der nach deutschem Steuerrecht ermittelten Bemessungsgrundlage (z. B. das Recht des anderen Vertragsstaats ermöglicht den Abzug von Aufwendungen, die nach inländischem Steuerrecht dem Betriebsausgabenabzugsverbot des § 4 Abs. 5 EStG unterliegen) auftreten, auch wenn dies – bezogen auf den nach deutschem Steuerrecht maßgeblichen Veranlagungszeitraum – wie eine zumindest partielle Nichtbesteuerung wirkt.

Eine Nichtbesteuerung liegt nach dem genannten BMF-Schreiben vor, soweit der Staat, dem das Besteuerungsrecht nach dem DBA zugewiesen ist, nach nationalem Recht Einkünfte nicht besteuern kann, insbesondere weil diese nicht steuerbar bzw. sachlich steuerbefreit sind oder der Steuerpflichtige persönlich steuerbefreit ist, oder aus anderen Gründen eine tatsächliche Besteuerung unterbleibt (z. B. aufgrund Verzichts durch Erlass der Steuer oder durch Unkenntnis der durch den Steuerpflichtigen erzielten Einkünfte).

Darüber hinaus wurden durch Tz. 5 des genannten BMF-Schreibens die Tz. 9 bis 9.2 des BMF-Schreibens vom 14.09.2006[21] aufgehoben, wonach es für die Freistellung von der deutschen Besteuerung unbeachtlich war, in welchem Umfang die Einkünfte von der ausländischen Besteuerung erfasst wurden oder ob dort alle Einkunftsteile im Rahmen der ausländischen Veranlagung zu einer konkreten Steuerzahlungspflicht führten. In der Literatur wird deshalb diskutiert, ob nunmehr nach Ansicht der Finanzverwaltung die Ausnahme von einzelnen Einkunftsteilen von der Besteuerung im Tätigkeitsstaat schädlich für die Annahme des Tatbestandsmerkmals der „Besteuerung im Tätigkeitsstaat“ und damit schädlich für die Freistellung dieser Einkünfte in Deutschland sei.[22]

Die Deutsche Verhandlungsgrundlage für DBA[23] ist in Art. 22 Abs. 1 Nr. 5b) vorgesehen, dass die Doppelbesteuerung durch Steueranrechnung vermieden wird, wenn der andere Vertragsstaat „Einkünfte oder Vermögen oder Teile davon nach dem Abkommen besteuern kann, tatsächlich aber nicht besteuert“. Das würde bedeuten, dass auch die nur teilweise Nichtbesteuerung im Tätigkeitsstaat die Freistellung der Einkünfte in Deutschland verhindern würde und (lediglich) Anrechnung zu gewähren wäre.

In dem aktuellen BMF-Schreiben vom 03.05.2018zur steuerlichen Behandlung des Arbeitslohns nach den Doppelbesteuerungsabkommen sind keine Ausführungen zu dieser Problematik der „Besteuerung im Tätigkeitsstaat“ enthalten (vgl. Tz. 3). [24]

[1] Manchmal erfahren andere Länder einfach nichts von der Möglichkeit der Besteuerung.

[2] Vgl. auch das neue deutsche „Musterabkommen“: Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen im Bereich der Steuern vom Einkommen und Vermögen vom 22.08.2013 (veröffentlicht auf der Homepage des BMF) sowie Tagungsbericht von Kippenberg, IStR 9/2013 S. III.

[3] Geschaffen durch das StÄndG 2003 mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2004.

[4] Tz. 2.3.1 Rn. 45 in BMF vom 03.05.2018, IV B 2 – S 1300/08/10027, BStBl I 2018 S. 643; siehe ergänzend dazu BMF vom 14.03.2017, IV C 5 – S 2369/10/10002, BStBl I S. 473, Rn. 27;; FinMin Schleswig-Holstein vom 16.06.2011, VI 305 – S 1300 – 541, über die zu führenden Nachweise der Besteuerung bei einer Tätigkeit in China.

[5] Vielleicht will er auch nur ein schlecht verhandeltes DBA „retten“.

[6] Eingefügt durch das JStG 2007 mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2007.

[7] Auch diese Norm ist verfassungsrechtlich zweifelhaft, vgl. BFH vom 19.05.2010, I B 191/09, BStBl II 2011 S. 156.

[8] BFH vom 20.05.2015, I R 68/14, DB 2015, 2004.

[9] Vgl. BFH vom 11.01.2012, I R 27/11, IStR 2012 S. 313..

[10] AmtshilfeRLUmsG vom 26.06.2013, BGBl I 2013 S. 1809.

[11] Vgl. die Begründung im Entwurf des Bundesrats für ein JStG 2013 vom 01.03.2013, BR-Drucks. 139/13(B). Zur Verwaltungsmeinung u. a. hinsichtlich der Anwendbarkeit der §§ 50d Abs. 8 und 9 EStG siehe BMF v. 03.05.2018, IV B 2 – S 1300/08/10027, BStBl I 2018 S. 643 (ersetzt das Vorgängerschreiben BMF v. 12.11.2014), Tz. 2.4 Rn. 69.

[12] Vgl. FG Bremen vom 10.02.2011, 1 K 28/10, EFG 2011 S. 1431; FG Köln vom 21.10.2011, 4 K 2532/08, EFG 2012 S. 134.

[13] Vgl. BFH vom 10.01.2012, I R 66/09, BFHE 236 S. 304; Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz vom 30.06.2009, 6 K 1415/09, EFG 2009 S. 1649.

[14] BFH vom 10.01.2012, I R 66/09, BFHE 236 S. 304, Rz. 15 und 16d.

[15] BVerfG Beschluss vom 15.12.2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016 S. 1295.

[16] 2. Leitsatz des Beschlusses des BVerfG vom 15.12.2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016 S. 1295.

[17] BFH vom 29.06.2016, I R 66/09, BFHE 236 S. 304.

[18] So z. B. die DBA mit Bulgarien, Großbritannien, Spanien, Ungarn, Irland, Niederlande.

[19] BGBl II 2012 S. 1403, anzuwenden seit dem 01.01.2014.

[20] BMF-Schreiben vom 20.06.2013, IV B 2 – S 1300/09/10006, BStBl I S. 980.

[21] BStBl I 2006 S. 532. Dieses BMF-Schreiben wurde mit Wirkung ab dem 01.01.2015 durch das BMF-Schreiben vom 12.11.2014, IV B 2 – S 1300/08/10027, BStBl I 2014 S. 1467, ersetzt, welches seinerseits durch das BMF-Schreiben vom 03.05.2018, IV B 2 – S 1300/08/10027, BStBl I 2018 S. 643, ersetzt wurde.

[22] Dagegen argumentieren Schmitt/Meyen, DB 2014 S. 1450, 1452 f., m. w. N.

[23] Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen im Bereich der Steuern vom Einkommen und Vermögen vom 22.08.2013, veröffentlicht auf der Homepage des BMF unter http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/Internationales_Steuerrecht/Allgemeine_Informationen/2013-08-22-Verhandlungsgrundlage-Doppelbesteuerungsabkommen-Steuern-vom-Einkommen-und-Vermoegen.html.

[24] BMF vom 03.05.2018, IV B 2 – S 1300/08/10027, BStBl I 2018 S. 643. Auch das Vorgängerschreiben vom 12.11.2014, IV B 2 – S 1300/08/10027, BStBl I 2014 S. 1467, enthielt hierzu keine Ausführungen.