1. Tatbestand des § 1 AStG

§ 1 AStG[1] wurde aufgrund der Änderung des Art. 7 OECD-MA 2010[2] neu gefasst. Art. 7 OECD-MA regelt das Besteuerungsrecht für Unternehmensgewinne. Kernstück der Änderung des Art. 7 OECD-MA 2010 ist die Selbstständigkeitsfiktion der Betriebsstätte bei der Gewinnermittlung: der Gewinn der Betriebsstätte ist nach der Neuregelung so zu ermitteln, als wäre die Betriebsstätte ein eigenständiges Unternehmen (Tochtergesellschaft), das die gleichen Funktionen unter gleichen Bedingungen ausübt (sog. Authorised OECD Approach – AOA.[3]) Der Betriebsstätte sind unter Anwendung der OECD-Verrechnungspreisgrundsätze[4] die Gewinne/Verluste zuzurechnen, die sie als selbständiges Unternehmen erzielt hätte. Der (theoretische) Betriebsstättengewinn ist dabei nicht durch den realen Unternehmensgewinn begrenzt. Die deutsche Finanzverwaltung ging bislang von einer eingeschränkten Selbstständigkeitsfiktion der Betriebsstätte aus.[5] Die Selbstständigkeitsfiktion der Betriebsstätte gilt nur für Art. 7 OECD-MA 2010 und den relevanten Methodenartikel, nicht auch für andere Verteilungsnormen! Die indirekte Methode zur Ermittlung des Betriebsstättengewinns ist nicht mehr zulässig.[6]

Die Durchführung des AOA erfolgt vom Grundsatz her in zwei Schritten:

  1. Schritt: Identifizierung der Personalfunktionen im Unternehmen sowie die Art und Weise ihrer Ausübung auf Basis einer Funktionsanalyse (entsprechend des Verrechnungspreisrichtlinien) und Zuordnung der jeweiligen Risiken zu den so identifizierten Funktionen.
  2. Schritt: Auf Grundlage dieser Zuordnung sind die Art der Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen und Betriebsstätte und unter Beachtung der OECD-Verrechnungspreislinien die Verrechnungspreise für diese Geschäftsbeziehungen zu bestimmen.

Der neue Art. 7 OECD-MA 2010 enthält die abkommensrechtliche Zuweisung von Gewinnbestandteilen aus Innentransaktionen, aber keine Regelung, ob und inwieweit tatsächlich eine Besteuerung dieser fiktiven Gewinne durch die beteiligten DBA-Staaten zu erfolgen hat.[7] Hierfür sind nationale Vorschriften erforderlich, in Deutschland ist dies der neue § 1 AStG in der ab dem 01.01.2013 geltenden Fassung.

Die wesentlichen Änderungen des § 1 AStG im Vergleich zur Vorgängerfassung können wie folgt kurz zusammengefasst werden:

–          In Abs. 1 wurde ein neuer Satz 2 eingefügt, der die Einbeziehung der Personengesellschaften und Mitunternehmerschaften regelt, die bisherigen Sätze 2 und 3 sind jetzt Sätze 3 und 4.

–          Die Absätze 4 (Geschäftsbeziehung)[8] und 5 (Gewinnabgrenzung) wurden neu gefasst.

–          Die RVO-Ermächtigung zu Einzelheiten des Fremdvergleichsgrundsatzes in Absatz 3 wurde gestrichen und im neuen Absatz 6 wurde eine neue RVO-Ermächtigung zu Einzelheiten des Fremdvergleichsgrundsatzes und zur Bestimmung des Dotationskapitals geschaffen. Auf Basis dieser Ermächtigung wurde eine Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung[9] erlassen, die erstmals für Wirtschaftsjahre anzuwenden ist, die nach dem 31.12.2014 beginnen, und folgende Punkte regelt:

  1. die Art und Weise der Berechnung der Betriebsstätteneinkünfte (Hilfs- und Nebenrechnung); in dieser Hilfs- und Nebenrechnung werden vor allem die der Betriebsstätte zuzuordnenden Vermögenswerte, ihr Dotationskapital und die übrigen, ihr zuzuordnenden Passiva sowie die Geschäftsvorfälle der Betriebsstätte erfasst;
  2. unter welchen Umständen anzunehmende schuldrechtliche Beziehungen („Dealings“) zwischen einer Betriebsstätte und dem übrigen Unternehmen, zu dem sie gehört, vorliegen;
  3. welche Besonderheiten für bestimmte Branchen, insbesondere für Banken, für Versicherungen, für Bau- und Montageunternehmen und für Explorationsunternehmen zu beachten sind;
  4. in welchen Fällen zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten von widerlegbaren Vermutungen auszugehen ist; dies ist notwendig, da eine rechtliche Abgrenzung auf der Basis des Zivil- oder Handelsrechts innerhalb eines Unternehmens nicht möglich ist.

Laut Wassermeyer drohen durch die Neufassung des § 1 AStG „dramatische Veränderungen auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Betriebsstättengewinnermittlung“.[10]

[1] Art. 6 des Amtshilferichtlinien-Umsetzungsgesetzes [AmtshilfeRLUmsG] vom 26.06.2013, BGBl I 2013 S. 1809.

[2] Der OECD-Rat hat am 22.07.2010 eine umfassende Revision des OECD-Musterabkommens und des diesbezüglichen Kommentars genehmigt. Das OECD-Musterabkommen wird in Kapitel III. „Doppelbesteuerungsabkommen“ behandelt.

[3] Vgl. Hemmelrath in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. München 2015, Art. 7 Rz. 14a.

[4] Leitlinien zur Verrechnungspreisdokumentation und länderbezogenen Berichterstattung, 19.03.2015, http://www.oecd-ilibrary.org/taxation/leitlinien-zur-verrechnungspreisdokumentation-und-landerbezogenen-berichterstattung_9789264231283-de.

[5] Vgl. Tz. 2.2 des BMF-Schreibens vom 25.08.2009 (Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze), IV B 5 – S 1341/07/10004, BStBl I 2009 S. 888.

[6] A. A. Niehaves in Haase, AStG DBA, 2. Aufl. 2012, II MA Art. 7 Rn. 233.

[7] Hinweis: DBA begründen grds. keine Steuerpflichten, sondern weisen Besteuerungsrechte zu.

[8] Zur Anwendung des neuen § 1 Abs. 4 AStG ist ein BMF-Schreiben ergangen: BMF vom 04.06.2014, IV B 5 – S 1341/07/10009, BStBl 2014 I S. 834.

[9] Verordnung zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes auf Betriebsstätten nach § 1 Absatz 5 des Außensteuergesetzes (Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung – BsGaV) vom 13.10.2014, BGBl I S. 1603, zul. geändert durch Artikel 5 der Verordnung vom 12. Juli 2017, BGBl I S. 2360. Vgl. auch die Kommentierung des Verordnungsentwurfs durch Oesterreicher/van der Ham/Andresen, IStR Beihefter zu Heft 4/2014 vom 20.02.2014, sowie den Aufsatz von Nientimp/Ludwig/Stein, Die finale Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung (BsGaV), IWB Nr. 22 vom 28.11.2014 S. 815 ff.

[10] IStR 2012 S. 277.