2.4.3.2 Verjährungsbeginn bei Veranlagungssteuern

Wann ist also eine Steuerhinterziehung beendet, wann tritt der tatbestandliche Erfolg ein? Diese Frage muss für jede Steuerart und für jede mögliche Begehungsart (Tun oder Unterlassen) gesondert beantwortet werden. Es gibt also keine pauschale Antwort, die für alle denkbaren Fälle anwendbar wäre. Allerdings gibt es Grundsätze, die sich leicht abgewandelt auf die jeweiligen Einzelfälle anwenden lassen.

Veranlagungssteuern sind z. B. Einkommensteuer, Körperschaftsteuer oder Gewerbesteuer. Beschränken wir uns auf die klassische Steuerhinterziehung des § 370 AO, kommen bei Veranlagungssteuern zwei Begehungsformen in Betracht. Steuerhinterziehung durch Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO).

Beispiel 1: S gibt am 20.04.2018 seine Einkommensteuererklärung für 2017 ab, in der er nur die Hälfte seiner tatsächlichen Zinseinkünfte angegeben hat. Auf Basis seiner Erklärung ergeht unter dem 09.05.2018 ein Einkommensteuerbescheid, den S am 10.05.2018 per einfachen Brief erhält.

S hat durch die unvollständige Angabe von steuerlich erheblichen Tatsachen erreicht, dass die Einkommensteuer zu niedrig festgesetzt wurde. Mit Festsetzung der zu niedrigen Einkommensteuer ist der „Verkürzungserfolg“ eingetreten, die Voraussetzungen des § 370 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 AO liegen damit vor. Der Verkürzungserfolg tritt im Rechtssinne dann ein, wenn der Einkommensteuerbescheid wirksam wird. Nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO wird der Bescheid mit Bekanntgabe wirksam. Die Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO kann hier nicht eingreifen, da sie den Beginn der Verjährungsfrist zuungunsten des Steuerpflichtigen verlängern würde. Die strafrechtliche Verjährungsfrist beginnt damit am 10.05.2018 zu laufen und endet am 09.05.2023.

Beispiel 2 (Abwandlung zu Beispiel 1): Trotz hoher Einkünfte gibt S für 2017 überhaupt keine Einkommensteuererklärung ab. Am 01.09.2019 sind in seinem zuständigen Finanzamt 95 % aller Veranlagungsarbeiten für die Einkommensteuer 2017 abgeschlossen. Aufgrund eines EDV-Fehlers wird erst 2024 die Nichtabgabe entdeckt.
Die Nichtabgabe der Einkommensteuererklärung erfüllt den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 AO. Als Steuerverkürzung gilt nämlich auch der Fall, dass überhaupt keine Steuern festgesetzt werden.

Da jedoch eine Steuerfestsetzung in Form eines Bescheides fehlt, ist unklar, wann die Tat vollendet wurde und wann die Verjährung zu laufen beginnt. Basierend auf den im allgemeinen Strafrecht geltenden Grundsätzen zu Unterlassungsdelikten tritt in solchen Fällen der (fiktive) Erfolg zu dem fiktiven Zeitpunkt ein, zu dem bei ordnungsgemäßer Abgabe der Steuerklärung die Steuer festgesetzt worden wäre. Da auch im Verjährungsrecht der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt, muss bei dieser fiktiven Berechnung ein möglichst früher Vollendungszeitpunkt angenommen werden. Da ein steuerlich beratener Steuerpflichtiger unter normalen Umständen für die Abgabe seiner Einkommensteuerklärung eine Fristverlängerung bis zum 31.12. des Folgejahres erreichen kann, ist von diesem Datum auszugehen. Dann ist zu überlegen, wann eine zum 31.12. des Folgejahres eingereichte Einkommensteuererklärung bei normalem Lauf der Dinge wohl bearbeitet und ein Einkommensteuerbescheid erlassen und bekannt gegeben worden wäre. Dieser fiktive Tag der Bekanntgabe wäre dann der Tag des Fristbeginns.
Bei der Ermittlung der Verjährungsfrist wird bei unterlassener Abgabe die Tatvollendung möglichst früh angesetzt. Hingegen wird bei der Frage, ob überhaupt eine vollendete oder nur versuchte Tat vorliegt, der Zeitpunkt der Vollendung möglichst weit nach hinten „verlegt“.