1. Mehrwertsteuersystemrichtlinie

Geltende Grundlage des gemeinsamen EU-Mehrwertsteuersystems ist die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie 2006/112/EG vom 28.11.2006,[1] sie wird ergänzt durch die Durchführungsvorschriften zur Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie 2006/112/EG,[2] die in allen EU-Mitgliedstaaten seit dem 01.07.2011 anzuwenden ist. Die Finanzbehörden der EU-Mitgliedstaaten sind nach der EU-Verordnung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer[3] verpflichtet, sich gegenseitig Amtshilfe durch Auskunftsaustausch zu leisten. Möglich sind nach dieser Verordnung der Informationsaustausch auf Ersuchen und in diesem Zusammenhang u. a. auch die Teilnahme bei behördlichen Ermittlungen im ersuchten Staat sowie gleichzeitige Prüfungen eines Steuerpflichtigen in verschiedenen Mitgliedstaaten, sowie der Informationsaustausch ohne vorheriges Ersuchen. Zudem ist diese Verordnung Grundlage zur Bildung eines Netzwerkes für einen raschen Austausch gezielter Informationen zwischen den Mitgliedstaaten, das sog. EUROFISC. Auch für diese Verordnung gibt es eine Durchführungsverordnung,[4] die die praktischen Modalitäten und technischen Einzelheiten der Informationsübermittlung zwischen den Steuerbehörden (i. d. R. auf elektronischem Weg) festlegt.

Der Mehrwertsteuer unterliegen Umsätze sowie die Einfuhr von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines EU-Mitgliedstaates gegen Entgelt tätigt.[5] Dazu gehören namentlich:

–          die Lieferung von Gegenständen durch einen Steuerpflichtigen,

–          der innergemeinschaftliche Erwerb von aus einem anderen Mitgliedstaat stammenden Gegenständen in einem bestimmten Mitgliedstaat,

–          die Erbringung von Dienstleistungen durch einen Steuerpflichtigen,

–          die Einfuhr von Gegenständen mit Herkunft außerhalb der EU.

Bei der Besteuerung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen innerhalb der EU ist seit 01.01.2010 ein Systemwechsel erfolgt,[6] grenzüberschreitende Dienstleistungen sind seitdem nicht mehr im Ursprungsland, sondern im Bestimmungsland mehrwertsteuerpflichtig. Hintergrund dieses Systemwechsels war das Bestreben, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.

Die Eckdaten des gemeinsames EU-Mehrwertsteuersystems sind ein Regelsteuersatz von mindestens 15 %, wobei es keine Obergrenze gibt; möglich sind aber ermäßigte Steuersätze für bestimmte Leistungs- und Warengruppen, hier jedoch mindestens 5 %. Zudem kann für bestimmte Leistungsgruppen eine Mehrwertsteuerbefreiung erfolgen, dann ist aber auch der Vorsteuerabzug ausgeschlossen oder es liegt statt der Befreiung eine Nullsatzregelung vor, bei der der Vorsteuerabzug möglich bleibt.

Mit der Richtlinie 2013/42/EU[7] wurde ein „Schnellreaktionsmechanismus (SMR) bei Mehrwertsteuerbetrug eingerichtet. Es handelt sich dabei um ein Verzeichnis von Betrugsbekämpfungsmaßnahmen, um in den Mitgliedstaaten eine Grundsatzdebatte über die Art der Maßnahmen zu vermeiden und so schneller reagieren zu können. Gedacht ist dieses Verzeichnis insbesondere für Karussellbetrug.  Die einzige bisher vorgeschlagene Maßnahme in diesem Sinne ist die Reverse-Charge-Regelung, wonach die Steuer vom steuerpflichtigen Empfänger geschuldet wird und nicht vom Lieferer oder Dienstleistungserbringer, in Deutschland umgesetzt durch § 13b Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 – 10 UStG.

Nach einer Studie der EU-Kommission zur sogenannten „Mehrwertsteuerlücke[8] gingen den EU-Mitgliedstaaten  2014 knapp 160 Milliarden Euro durch nicht erhobene Mehrwertsteuer und Betrug verloren. Die größte „Mehrwertsteuerlücke“ besteht nach Angaben der Kommission in Italien (36,9 Mrd. Euro), die geringste in Luxemburg (147 Mio. Euro). Im Vergleich dazu lag im Jahr 2013 die Mehrwertsteuerlücke bei fast 170 Mrd. EUR.

Am 7.4.2016 stellte deshalb die EU-Kommission einen Aktionsplan zur Umgestaltung des gegenwärtige EU-Mehrwertsteuersystems[9] vor, um es einfacher, weniger betrugsanfällig und unternehmensfreundlich zu machen. Die Kernpunkte des Aktionsplanes sind:

  • zentrale Grundsätze für ein künftiges einheitliches europäisches Mehrwertsteuersystem;
  • kurzfristige Maßnahmen zur Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug;
  • Pläne zur Aktualisierung der Regelung für die Mehrwertsteuersätze und Optionen dafür, wie den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität bei der Festsetzung der Mehrwertsteuersätze eingeräumt werden kann;
  • Vorschläge zur Vereinfachung der Mehrwertsteuervorschriften für den elektronischen Geschäftsverkehr im Rahmen der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt sowie für ein umfassendes Mehrwertsteuerpaket zur Erleichterung der Verfahren für KMU.

Daran anschließend folgte am 04.10.2017 der Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG in Bezug auf die Harmonisierung und Vereinfachung bestimmter Regelungen des Mehrwertsteuersystems und zur Einführung des endgültigen Systems der Besteuerung des Handels zwischen Mitgliedstaaten[10]. Damit soll das Mehrwertsteuersystem grundlegend verändert werden, indem der Verkauf von Waren von einem EU-Land in ein anderes in gleicher Weise besteuert wird wie der Verkauf von Waren innerhalb desselben Mitgliedstaats. Es sind vier „Eckpfeiler“ für einen neuen endgültigen und gemeinsamen Mehrwertsteuerraum vorgesehen:

  • Betrugsbekämpfung: Künftig wird auf den grenzüberschreitenden Handel zwischen Unternehmen Mehrwertsteuer erhoben.
  • zentrale Anlaufstelle: Dank einer zentralen Anlaufstelle wird es einfacher für grenzüberschreitend tätige Unternehmen, ihren mehrwertsteuerlichen Pflichten nachzukommen.
  • größere Kohärenz: Umstellung auf das „Bestimmungslandprinzip“, bei dem der endgültige Betrag der Mehrwertsteuer stets an den Mitgliedstaat des Endverbrauchers entrichtet wird und dem in diesem Mitgliedstaat geltenden Satz entspricht.
  • weniger Bürokratie: Vereinfachung der Vorschriften für die Rechnungslegung, sodass die Verkäufer auch beim grenzüberschreitenden Handel Rechnungen gemäß den Vorschriften ihres eigenen Landes stellen können.[11]

[1] Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie 2006/112/EG (MwStSystRL) des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl 2006, L 347/1; diese MwStSystRL ersetzte am 01.01.2007 u. a. die 6. EG-RL, zuletzt geändert durch die RL 2008/117/EG des Rates vom 16.12.2008 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG, ABl 2009, L 14/7. Download einer konsolidierten Fassung 2013 der MwStSystRL unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex:02006L0112–20110101.

[2] VO (EU) Nr. 282/2011 vom 15.03.2011 mit neuen Durchführungsvorschriften zur MwSt-RL 2006/112/EG, ABl 2011, L 77/1, diese VO ersetzt die bisherige Durchführungs-VO (EG) Nr. 1777/2005.

[3] Verordnung (EU) Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer vom 07.10.2010, ABl 2010, L 268/1; diese VO ist eine Neufassung der VO (EG) Nr. 1798/2003 vom 07.10.2003.

[4] Durchführungsverordnung (EU) Nr. 79/2012 vom 31.01.2012 zur Regelung der Durchführung bestimmter Vorschriften der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, ABl 2012, L 29/13.

[5] Eine Übersicht über das europäische Mehrwertsteuersystem und die zugrunde liegenden europäischen Rechtsakte finden Sie unter: http://eur-lex.europa.eu/search.html?SUM_2_CODED=2102&qid=1432632208995&name=summary-eu-legislation%3Ataxation&type=named &SUM_DD_YEAR=2014&OBSOLETE_LEGISUM=false&SUM_3_CODED=210201&SUM_1_ CODED=21&locale=de.

[6] Durch die Richtlinie 2008/8/EG vom 12.02.2008 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG bezüglich des Ortes der Dienstleistung, ABl 2008, L 44/11. Vgl. zum „Ort der sonstigen Leistung“ ab dem 01.01.2010 das BMF-Schreiben vom 04.09.2009, IV B 9 – S 117/08/10001, BStBl I 2009 S. 1005 und dessen Ergänzung durch BMF vom 18.03.2010, IV D 3 – S 7117/08/10001-03, BStBl I 2010 S. 256, sowie ab 01.01.2011 das BMF-Schreiben vom 04.02.2011, IV D 3 – S 7117/10/10006, BStBl I S. 162.

[7] Richtlinie 2013/42/EU des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG vom 22.07.2013, ABl 2013, L 201/1.

[8] Study and Reports on the VAT Gap in the EU-28 Member States: 2016 Final Report – TAXUD/2015/CC/131.

[9] http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-1022_de.htm.

[10] COM(2017) 569 final.

[11] http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-3443_de.htm